Mozart auf dem Plastiksaxophon: Ornette Colemans „Lonely Woman“
Wird ein Jazz-Stück dadurch, dass immer mehr Musiker es zur Grundlage eigener Improvisationen machen, zu einem populären, also zu einem Pop-Stück? Oder wird es, häufen sich die Interpretationen, vielmehr zu einem Klassiker, zu klassischer Musik also? Jazz-Musiker retten sich aus diesem Begriffs-Dilemma, indem sie das fragliche Stück als „Standard“ bezeichnen. Dieser chaos gar nicht unbedingt als Improvisationsgrundlage komponiert worden sein, die meisten Standards gehen sogar auf (Musical-)Songs zurück: „You and the Night and the Music“, „Night and Day“ oder „Summertime“ zum Beispiel. Die ursprünglichen Texte spielen im modernen Jazz allerdings eine untergeordnete Rolle, es überwiegen die rein instrumentalen Interpretationen.
Fast zweihundert Versionen eines Stücks
Umgekehrt gibt es zu den meisten Standards, die originär für Jazz-Combos geschrieben wurden, gar keine Lyrics, man denke an „Kind of Blue“, „A Love Supreme“ oder „Oleo“. Manche dieser Kompositionen aber haben die Hörer so bewegt, dass ihnen nachträglich ein Text angedichtet wurde, so etwa bei Thelonious Monks „Round Midnight“, das unter anderem von Sting gesungen wurde.
Eine weitere Ballade, „Crepucule with Nellie“, hat Monk dagegen von vornherein als klassisches, das heißt in seiner Notation unveränderliches Stück begriffen: Selbst hat er über die Akkordfolgen nie improvisiert, sondern sich stets darauf beschränkt, lediglich die Melodie zu spielen (so heilig und unantastbar erschien ihm wohl die Liebe zu seiner Frau Nellie).
Ein anderer Jazz-Musiker ist nicht unbedingt als Balladen-Komponist berühmt geworden, und hat doch die wohl am häufigsten gecoverte Jazz-Ballade der Geschichte geschrieben: Der Free-Jazz-Pionier Ornette Coleman. Fast zweihundert Versionen seines Stücks „Lonely Woman“ entstanden seit der ersten Aufnahme im Jahr 1959. Und das sind nur die auf Schallplatte gepressten oder auf CD gebrannten. Hinzu kommen unzählige Live-Versionen, über die nur Youtube verfügt.
Der Grund für den Erfolg des Stücks ist zweifellos angle Melodie, die, wie die großen Melodien von Thelonious Monk oder Wolfgang Amadeus Mozart, von einer solch erhabenen Schlichtheit ist, dass man sich wundert, warum nicht schon vorher irgendein Mensch darauf gekommen ist, diese paar Töne aneinanderzureihen. Eigentlich scheint es so, als sei die Melodie von „Lonely Woman“ immer schon dagewesen, und als hätte Coleman sie bloß als erster aufgeschrieben. Sie hat nichts Gemachtes, Komponiertes an sich, sondern wirkt eher wie der spontane Ausdruck einer Gefühlsregung, einer Stimmung (traurig, melancholisch, d-Moll), die jedem Hörer wohlvertraut ist. Der so passende wie bildstarke Titel befeuert die Imagination zusätzlich.
Die prägnante, perkussive und das Stück eröffnende Bassfigur von Charlie Haden lädt es zudem mit geradezu roher Energie auf und bewahrt „Lonely Woman“ vor jeder falschen Gefühligkeit. Die Art wie Coleman mit seinem Plastiksaxophon und Don Cherry auf dem Kornett sich in den unisono-Passagen aneinander reiben und die kurzen, kadenzenartig eingeworfenen Improvisationen tun ihr Übriges, das Gefühl von Authentizität und emotionaler Direktheit zu verstärken. Niemals sonst wurde Kunstlosigkeit so kunstvoll in Szene gesetzt.
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